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Nach welchem Maßstab sollen wir die geistige Gesundheit eines Menschen beurteilen? Wenn der Betreffende als wahnsinnig eingestuft und zu Fall gebracht wird, wer profitiert dann davon?
Prinzessin Irulan:
Das Leben des Muad'dib, Band 3
An ihrem letzten Abend auf Wallach IX erklärte Jessica sich bereit, an der Nachtwache teilzunehmen. Gemäß der Tradition hatten sie und die anderen Schwestern an der Mütterschule den Tag allein verbracht und über das Leben und die Mühen von Raquella Berto-Anirul nachgesonnen, die den Orden vor vielen Tausenden von Jahren auf den Trümmern der Menschheit gegründet hatte, die Butlers Djihad hinterlassen hatte.
Jessica konnte es kaum erwarten, sich der stillen Überzeugungsarbeit der Bene Gesserit zu entziehen. Sie hatten versucht, sie mit der Position der Mutter Oberin zu bestechen – welche Bene Gesserit strebte nicht ein solches Ziel an? Sie hatte es vermieden, eine Antwort zu geben, was die Schwestern schon an sich zutiefst misstrauisch machte. Und nachdem sie nun wusste, was Tessia wegen ihrer Weigerung hatte erdulden müssen, hatte Jessica das Gefühl, sich in ernsthafter Gefahr zu befinden.
Als die Nacht hereinbrach, reihte sich Jessica, die nach wie vor wenig Interesse an Gesprächen hatte, in eine lange Prozession schwarzgewandeter Frauen ein, die mit Kerzen in den Händen den Hang des Campo de Raquella hinaufgingen, eines auffälligen Hügels in der Nähe der Mütterschulen-Anlage. Während sie den steinigen Pfad hochstiegen, sah die gewundene Kette von Lichtern aus wie eine Reihe leuchtender Augen in der sternendurchsetzten Dunkelheit. Eine weitere Reihe flackernder Flammen kam den Hügel auf einem parallel verlaufenden Pfad herab.
Die Schwestern stiegen zur weiten, runden Spitze mit dem Steinhügel hinauf, der sich immer noch an der geheiligten Stelle befand, an der Raquella vor so langer Zeit gestanden hatte und wo ihr Leben beinahe vorzeitig ein Ende gefunden hätte. Eine kühle Brise kam auf, als Jessica den Gipfel erreichte. Sie blickte zu den diamanten funkelnden Lichtern der weitläufigen Schulanlage herab und dachte über die Geschichte der Schwesternschaft nach, über die Jahrtausende der Macht und die Entscheidungen, die sie in dieser Zeit getroffen hatte.
Anders als die meisten der indoktrinierten Akoluthen wusste Jessica allerdings, dass einige dieser Entscheidungen falsch gewesen waren. Grundfalsch.
Zwei Frauen standen in ihrer Nähe am Rande des steilen Abhangs an der anderen Seite des Hügels, der die Stelle markierte, an der Raquella einst hatte hinunterspringen wollen. Damals war sie völlig mutlos gewesen, weil es ihr nicht gelungen war, die verschiedenen Fraktionen ihrer Organisation zusammenzuhalten, unfähig zu erkennen, wie sie sie auf einem gemeinsamen Weg in die Zukunft der Menschheit führen sollte. Sie hatte gehofft, ihr persönliches Opfer würde die anderen zur Zusammenarbeit zwingen.
Doch es war eben diese Stelle, an der die inneren Stimmen von Raquellas weiblichen Vorfahren zum ersten Mal zu ihr gesprochen hatten. Sie hatte an jenem Tag eine große Dosis der Rossak-Droge zu sich genommen, doch bei den geheimnisvollen Inneren Stimmen handelte es sich nicht um eine drogeninduzierte Halluzination. Die Stimmen, die von ihren viele Generationen zurückliegenden Vorfahren stammten, hatten sie gedrängt, weiterzuleben und andere zu inspirieren.
Mit der Kerze in der Hand atmete Jessica tief die Nachtluft ein, um den Augenblick in seiner Gänze zu erleben. Die Zeremonie war als Zeit der Rückschau und Kontemplation gedacht, als Gelegenheit, das weite, sich entfaltende Muster zu erkennen, das der Einfluss der Bene Gesserit hinterließ.
Sie blickte vom Abhang aus in die Ferne, wie Raquella es getan hat, wobei sie näher an der Kante stand als die anderen Akoluthen und Ehrwürdigen Mütter. Einen Moment lang fühlte sie sich stark mit dem Herzen der Schwesternschaft verbunden, mit dem ursprünglichen Zweck, der so viele mächtige Frauen zusammengeführt hatte, und nicht mit den korrupten, selbstsüchtigen Interessen, die den Orden später so weit vom Weg hatten abkommen lassen.
Eine neue Mutter Oberin konnte das alles ändern ... vielleicht war es dieses Gefühl, das Harishka in ihr erzeugen wollte, eine weitere Versuchung durch den Ruhm der Schwestern und ihre Eigenschaft als Hüterinnen des Laufs der Geschichte. Doch trotz der von den Bene Gesserit geprägten Gefühle, die in ihr angeregt worden waren, würde Jessica sich nicht umentscheiden.
Eine Gruppe von Schwestern beendete ihre Meditation und ging davon, um Platz für die nächste zu machen. Diejenigen, die Zweifel oder andere Sorgen hatten, brauchten länger. Andere erlangten schneller Gewissheit und gaben ihren Platz frei.
Ein Schatten trat neben sie, eine weitere schwarzgewandete Ehrwürdige Mutter. Mohiam. »Ich bin froh, dass du zur Nachtwache geblieben bist, Jessica. Mit Sicherheit spürst du es.« Ihre Stimme war brüchig wie ein trockener Wind auf Arrakis. »Jede Schwester muss an dieser Sache teilnehmen, um ihre Gedanken und ihr Herz zu reinigen.«
»Es erinnert mich an die einstmals ehrenwerten Ziele der Schwesternschaft ... im Gegensatz zu ihren späteren Taktiken ... zu dem, was jetzt geschieht.«
Mohiam zog im schwachen Licht ihrer Kerze eine verärgerte Miene. »Die Mutter Oberin Harishka hat dir ein großzügiges Angebot gemacht. Ich weiß, dass du deine Einwände und deine Kritik an unserer Schwesternschaft hast, aber jetzt kannst du all das in Ordnung bringen, und im Gegenzug verlangen wir nicht viel.« Die alte Frau blickte auf die im Dunkel verschwommene Landschaft hinaus. »Von hier aus reicht dein Blick weit in die Zukunft ... und deine Entscheidung sollte klar sein.«
»Klar? Ihr bittet mich darum, meinen Sohn zu töten.« Langsam verlor Jessica die Geduld. Der Rand des Abgrunds schien symbolisch für die Entscheidung zu stehen, die man von ihr verlangte. Nimm an oder spring. Aber gab es eine andere Möglichkeit?
»Einen Sohn, den du niemals hättest gebären sollen.«
Jessica wandte sich ab und ging den unebenen Pfad hinunter, wobei sie sich ihren Weg sorgfältig suchte. Sie wurde nicht langsamer, als die alte Frau ihr hastig folgte. »Wir werden Muad'dib zu Fall bringen, auf die eine oder andere Art. Wir werden seine eigene Gewalt gegen ihn richten.« Als die erstaunlich agile Frau Jessica einholte, blitzten ihre dunklen Augen im Kerzenlicht. »Du musst von diesen Dingen wissen, wenn du unsere neue Mutter Oberin werden sollst. Du musst wissen, dass wir Erfolg haben werden. Halt dich an uns.«
Die alte Frau an ihrer Seite dämpfte die Stimme, doch ihr Tonfall transportierte einen erregten Unterton. »Bereits jetzt haben Bene-Gesserit-Agentinnen Vorbereitungen getroffen, um vereinzelte Revolten im Imperium zu starten. Auf Caladan wird der erste Funke geschlagen. Es gibt nichts, was du dagegen unternehmen kannst. Wenn der Planet Feuer fängt, werden sich über hundert weitere Welten auf einmal erheben und ihre Unabhängigkeit erklären.
Der Imperator wird seine Armeen von anderen Schlachten abziehen müssen, damit sie sich um diese unerwarteten Probleme kümmern, und wenn seine Fanatiker sich so verhalten wie immer, wird die Brutalität ihres Durchgreifens eine weitere Kette von Revolten auslösen, echte Revolten, die wir nicht weiter antreiben müssen.
Landsraads-Repräsentanten werden sofortige Reparationszahlungen verlangen und einstimmig Gesetze durchdrücken, die Zurückhaltung gebieten. Falls Muad'dib sie ignoriert oder ein Veto einlegt, wird er die Unterstützung all der Adligen verlieren, die sich auf seine Seite gestellt haben. Seine Regierung wird nicht dazu in der Lage sein, sie alle unter Kontrolle zu halten. Verstehst du, Jessica? Wir werden mit oder ohne deine Hilfe Erfolg haben.«
Bürgermeister Horvus überraschende und naive Idee, Caladans Unabhängigkeit zu erklären, ergab mit einem Mal Sinn. Er war durch die Manipulation einer Bene-Gesserit-Agentin dazu verleitet worden. Jessica feuerte ihre Worte wie Geschosse auf Mohiam ab: »Wie könnt ihr es wagen, eine Revolte auf Caladan anzufachen! Auf meinem Caladan!«
»Deine Schwesternschaft sollte dir mehr bedeuten als ein einfacher Planet. Wir möchten, dass du die Macht des Tyrannen brichst, der bereits mehr Menschen getötet hat als jeder andere Anführer in der bekannten Geschichte. Was ist die Liebe einer einzigen Mutter im Vergleich dazu?« Mohiam rümpfte die Nase, als wäre sie verärgert, dass sie Jessica überhaupt überzeugen musste. »Ganz gleich, welche Entscheidung du triffst, wir bringen ihn trotzdem zu Fall.«
Jessica versuchte sie abzuschütteln, doch Mohiam hielt Schritt. Die Schwestern betrachteten Paul lediglich als gefährliche und zerstörerische Kraft ... aber sie kannte ihren Sohn als gütig, mitfühlend, intelligent und klug, voller Neugier und Liebe. Das war der echte Paul, und nicht irgendein gegensätzliches Bild, das im Kielwasser des Djihads aufgekommen war!
Die beiden Frauen hielten gemeinsam inne und ließen die Prozession der übrigen Schwestern den Hügel hinab an ihnen vorbeiziehen. Jessica starrte in ihre brennende Kerze, roch den Rauch und rang darum, ihre Gefühle zu beherrschen.
Mohiam packte sie mit überraschender Kraft am Arm und krächzte: »Du bist es der Schwesternschaft schuldig. Dein Leben gehört uns! Denk dran, dass wir dich in deiner Kindheit vor dem Ertrinken gerettet haben. Eine Frau ist für dich gestorben. Wie kannst du das vergessen haben? Erinnere dich.«
Als hätte die Stimme der Ehrwürdigen Mutter eine lange unterdrückte Erinnerung ans Licht geholt, dachte Jessica plötzlich daran zurück, wie sie um ihr Leben kämpfte, während sie in einem rauschenden Fluss unterging. Überall um sie herum war die reißende Strömung, in ihrem Mund, in ihren Lungen ... und es war schrecklich kalt. Sie konnte nicht gegen die starke Strömung anschwimmen, und sie wusste noch, wie sie gegen einen großen Felsen geschwemmt worden war und sich den Kopf gestoßen hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie in den Fluss gefallen war, nur dass sie damals noch ein Kind gewesen war, nicht älter als fünf oder sechs Jahre.
Zwei mutige Schwestern waren in den tosenden Fluss gesprungen, um sie zu retten. Jessica erinnerte sich daran, wie man sie ans Ufer gezogen und wiederbelebt hatte. Später hatte sie erfahren, dass eine der Schwestern bei der Rettungsaktion ums Leben gekommen war. Mohiam hatte Recht. An jenem Tag wäre sie gestorben, wenn die Frauen ihr nicht geholfen hätten.
Doch seltsamerweise konnte Jessica sich nicht an den Namen der Schwester erinnern, die gestorben war, und auch nicht daran, wo sich der Fluss befunden hatte. Als sie ihre Gedanken verlangsamte und die Erinnerungen an das Ereignis auskristallisieren ließ, erinnerte sie sich plötzlich deutlich an zwei Schwestern, die sie ans Ufer gezogen und sich dann abgewechselt hatten, das Wasser aus ihren Lungen zu pressen und sie durch den Mund zu beatmen.
Zwei Schwestern? Wie konnte es dann sein, dass eine davon bei der Rettung gestorben war?
Und warum waren alle anderen Einzelheiten so unscharf? Die Schwesternschaft überließ nichts dem Zufall. Irgendwie hatte man ihre Erinnerungen verändert.
»Vielleicht schulde ich den Bene Gesserit mein Leben, vielleicht habt ihr mir diese Geschichte auch vor langer Zeit in den Kopf gepflanzt, um sie in genau solchen Momenten einsetzen zu können.«
Jessica glaubte, im Aufflackern eines verschlagenen Ausdrucks auf dem Gesicht der alten Frau Bestätigung zu finden. Ihr Beinahe-Ertrinken hatte niemals stattgefunden! Welche Intrigen hatten diese alte Frau und ihre Komplizinnen vorbereitet, und welche Lügen verbargen sie?
Jessica schaute von oben auf Mohiam herab und sagte: »Danke, dass du mir geholfen hast, mich zu entscheiden. Tatsächlich habe ich heute Abend Klarheit erlangt. Ich bin der Schwesternschaft nichts schuldig!«
Mohiam packte Jessica am Ärmel. »Du wirst mir zuhören. Du wirst die richtige Wahl treffen.« Jessica hörte die befehlende Stimme, den eindringlichen Tonfall, dem zu widerstehen sie eigentlich nicht hätte fähig sein sollen. Weil sie Mohiam so gut kannte, bemerkte sie bereits die Andeutungen, die gefährlichen Untertöne, und wusste, wie sie sich geistig gegen den Ansturm wappnen musste.
Eine weitere Ehrwürdige Mutter trat aus dem Schattengitterwerk, das die Bäume warfen, eine hochaufgeschossene Gestalt, deren faltiges Gesicht im Kerzenlicht erkennbar wurde. Stokiah, eine Frau, die sie vor langer Zeit auf Ix gesehen hatte ... die Frau, vor der Tessia sie gewarnt hatte. Jessicas Herz schlug vor instinktiver Angst unregelmäßig. Ich darf mich nicht fürchten ...
Stokiahs Stimme klang wie eine grobe Knochensäge. »Du enttäuschst uns umso mehr, indem du dich weigerst, deine Fehler zu korrigieren, Jessica. Wie kannst du diese Schuld nur ertragen?« Die Worte klangen gedehnt wie ein langer, sirrender Ton auf einer malträtierten Geige.
Mächtige Wellen psychischer Energie trafen Jessica und vermittelten ihr ein entsetzliches, zehrendes Gefühl der Verzweiflung, das ihr jede Kraft entzog und Scham über ihr zusammenschlagen ließ. Mehrere Schwestern hatten ganz in der Nähe den Pfad verlassen und zogen sich zu einem Kreis um sie und Mohiam zusammen, um sich der Attacke anzuschließen. Stokiah kam näher.
Jessica verspürte intensive Kopfschmerzen und das zwingende Gefühl, das tun zu müssen, was die Mutter Oberin Harishka wollte – sich gegen ihren eigenen Sohn wenden.
Doch Tessia hatte sie vorbereitet und ihr die Überlebenstechniken gezeigt, die sie gegen eine solche Attacke einsetzen musste. Rhomburs Frau war gequält und verletzt, aber nicht besiegt worden. Sie hatte ihr eigenes Band innerer Stärke gefunden und Widerstand geleistet, selbst als die Schwestern versucht hatten, ihren Willen zu brechen. Und dieses Wissen teilte Jessica nun.
Sie nahm all ihre Kraft und ihren Zorn gegen das zusammen, was Stokiah, Mohiam und die anderen Frauen ihr anzutun versuchten – ihr und Paul! Jessica stählte ihren Geist und folgte den mentalen Bahnen, die sie mit Tessias Hilfe angelegt hatte, stärkte ihre Schutzmauern und zapfte ihre innere Stärke an.
Sie kämpfte gegen die Schuld an, indem sie den stärksten Aspekt ihres Innersten nutzte, das Fundament ihres Lebens. Sie bot ihre ungebrochene Liebe zu Herzog Leto Atreides und ihrem gemeinsamen Sohn auf – und gewann daraus Kraft. In ihren Erinnerungen sah sie Letos raues, aber schönes Gesicht mit den holzrauchgrauen Augen, die sie so zärtlich und so schützend anblickten – und einen Moment lang konzentrierte sie sich darauf. Mit Letos Andenken an ihrer Seite, mit seinem Edelmut und seiner Stärke, die jede Zelle ihres Körpers durchtränkten, hatte sie eine Rüstung, die die Schwestern nicht durchdringen konnten.
Unter großer Anstrengung rief Jessica: »Spart euch ... eure Schuld ... für euch selbst!«
Mit einer konzentrierten Entladung warf sie den Angriff zurück, und als sie sich immer stärker konzentrierte, spürte Jessica, wie die geistige Tortur nachließ. Gleichzeitig hörte sie Schmerzensschreie, als sie Schuldechos auf ihre Angreiferinnen schleuderte. Einige Momente später spürte sie, dass sie die Oberhand gewonnen hatte. Sie stolzierte über den Pfad davon und ließ die Schwestern taumelnd und stöhnend zurück.